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Mensch und Geschichte
Wie erzählt man bildnerisch und angemessen von Geschehenem, um einer Geschichtsvergessenheit entgegenzuwirken? In seinem gesamten Werk stellte sich der Künstler Dieter Tucholke dieser Frage und Herausforderung. Schon in einem seiner ersten Materialdrucke von 1965 sucht Tucholke nach neuen technischen Möglichkeiten menschliches Grauen, das sich nie mehr wiederholen sollte, mahnend ins Bild zu bannen.
Dieter Tucholke, 1934 in Berlin und 2001 ebenda verstorben, studierte von 1952 bis 1957 Grafik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bei Werner Klemke und Arno Mohr. In den Künstlerkollegen Ingo Kirchner, Robert Rehfeldt und Hanfried Schulz fand er wichtige Weggenossen auf der Suche nach neuen experimentellen Ausdrucksweisen. Mit Freude am Experiment, anknüpfend an Dada und Konstruktivismus, entstanden ab 1967 Materialbilder, Collagen und Assemblagen, später Objekte und auch Gemälde. Inhaltlich widmete er sich konsequent den gesellschaftlichen Konflikten und Gefahren im Gestern, Heute und Morgen.
Tucholke beherrschte die verschiedenen Drucktechniken nicht nur meisterhaft, sondern kombinierte sie, um so komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen. In der Radierung Henker (1967) oder der Serie der Köpfe versucht er, durch die Überlagerung der verschiedenen Bild-, Druck- und Farbebenen eine dramatische Narration zu erreichen, welche wiederum die Betrachter:innen erreicht. Die individuelle Physiognomie des Henkers wird durch die Symbolik unmenschlichster Ideologie ausgelöscht. Die Köpfe sind nur noch schemenhaft, ja gespenstisch durch die berstenden Strukturen auf dem Blatt erkennbar. In seiner Serie Köpfe werden durch die „collageartigen Häufungen von Tugenden und Lastern“ (Dieter Tucholke) die Ursachen von Zwist, Leid und Leidenschaft befragt. In formalen und gedanklichen Überlagerungen geht der Künstler kleinbürgerlichen Verhaltensweisen auf den Grund.
Die Folge ist Teil seiner kritischen Analysen der deutschen Geschichte, die ein zentrales Motiv in seinem Schaffen bilden. Besonders die umfassende Serie von Offsetlithografien mit dem Titel Negativbilder Preußische Geschichte (1979–1981) zeichnet ein komplexes psychologisches Porträt einer morbiden Herrschaftsform, die bis heute in der Gesellschaft nachwirkt und kulminierte in einer noch schlimmeren Spielart, welche Tucholke in der Grafikmappe Die Nacht hat 12 Stunden – ein Totentanz (1933–1945) thematisiert. Auf 20 Blättern kombiniert er Farbsiebdruck mit Radierung und Schrift – und versucht, die zwölf dunkelsten Jahre in der deutschen Geschichte schonungslos ins Bild zu setzen.
Der politisch engagierte und zugleich in der DDR-Kulturlandschaft als unbequem bekannte Dieter Tucholke hat sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts anverwandelt und sie in seiner spezifischen Situation sowie künstlerisch vielfältigen Ausdrucksweise in die Gegenwart und Zukunft getragen. Ausgehend von der Grafik erweiterte er konsequent sein Repertoire: Neben Objekten und Malerei (ab 1983) bezog er auch Fotografie, Projektionen und Klang in sein Schaffen ein. Es entstanden so vielschichtige Bildwelten, die Geschichte eindrücklich erinnern und Gegenwart kritisch reflektieren.
Text: Anke Paula Böttcher
Hinter diesen Begriffen verbergen sich viele weitere Werke