Lebensdaten
Kategorien
Den Menschen nahe, ohne ihnen auf den Pelz zu rücken
Helga Paris, geboren 1938 in Goleniów, Polen, wuchs auf im Brandenburgischen Zossen. Sie wurde Modegestalterin im Berlin der frühen Sechzigerjahre und seit den Achtzigerjahren – wie ihre Berliner Zunftkolleginnen Sibylle Bergemann und die Leipzigerin Evelyn Richter zur einer Grande Dame der Fotografie des deutschen Ostens.
Ihre subtilen Motive prägen das Bildgedächtnis eines verschwundenen Landes. Menschen, Jahre, Leben. Dafür bekam sie den Hannah Höch-Preis, wurde Mitglied der Akademie der Künste. Ihre Fotos haben konsequent nur Schwarz-Weiß, mit Kontrasten, mit Schatten, mit poetischen Nebelfeldern, in welche die Konturen der Städte und das Alltagsleben eingesickert scheinen. Einzigartig sind ihre fotografischen Selbstbefragungen von 1981 bis zum Mauerfall: Sie fotografierte sich prüfend selber während der Götterdämmerung des Realen Sozialismus. Ihre strengen, ernsten „Selfies“ von damals geben ein Seismogramm der Stimmungslagen wieder, der Erschöpfung, der Ermüdung, der Zweifel der Hoffnung im Land, das seine Utopie verloren hatte.
Ihr Anspruch war und bliebt die Wahrhaftigkeit, egal, ob sie kleine Leute aus ihrem Viertel in Prenzlauer Berg, Passanten in der zu DDR Zeit tristen Chemiestadt Halle/ Saale, Arbeiterinnen im Textil-Kombinat Treff-Modelle, Roma in den rumänischen Karpaten oder Prominente aus der Welt der Kunst, des Theaters, der Literatur vor der Kamera hatte. Sie porträtierte Müllkutscher, Kohlemänner, den Bäcker und den Metzger aus ihrer Straße. Auch die Leute in den Eckkneipen. Sie hat alle kunstwürdig gemacht. Auch die rebellierenden Punks auf den Straßen Berlins, zu denen ihre beiden eigenen Kinder gehörten. Unverwechselbar ihre Serien: vom Alexanderplatz mit all seiner Ruppigkeit, den abgeranzten Ecken, vom unsanierten Leipziger Hauptbahnhof um 1980. Die Mitropa im vernutzten Jugendstil-Ambiente als zweite Heimat der Studenten, NVA-Soldaten und Dienstreisenden aller Couleur. Fotografische Vorbilder nennt sie die Filme der italienischen Neorealisten, des Russen Sergej Eisenstein und das französische Nachkriegskino. Ebenso das Theater, DT, Berliner Ensemble, Gorki. Sie orientierte sich nicht an Klassikern des Metiers wie Cartier-Bresson. Inspiriert haben sie eher existenzielle Gemälde von Beckmann und Munch. Und Fotos aus den Familienalben.
Wie kam sie all diesen Leuten so nahe wie möglich, ohne ihnen auf den Pelz zu rücken? Diese Quadratur des Kreises hat sie für sich und ihre Kleinbildkamera mit Empathie gelöst: Sie hat Vertrauen aufgebaut, ergründet auf geduldige, stille, abwartende, auch ermutigende Weise Gesichter, Haltungen, Gesten, auch Posen, ohne zu belästigen. Helga Paris schrieb auf ihre unverwechselbare Weise Fotografie-Geschichte. Sie verstarb im Februar 2024 in Berlin. Ihre Kunst, das Alltäglich zu etwas ganz Besonderem, Kostbaren zu machen, wird bleiben.
Text: Ingeborg Ruthe
Hinter diesen Begriffen verbergen sich viele weitere Werke